Claire Zachanassian, eine amerikanische Multimillionärin, kehrt in ihr Heimatdorf Güllen zurück, um sich zu rächen: Vor Jahrzehnten hat sie aus dem Dorf fliehen müssen, denn sie bekam ein Kind von Ill, ihrem Geliebten, und dieser Ill hat damals Zeugen bestochen, die beschworen, dass auch sie etwas mit Claire gehabt hätten. Sie bietet der Stadt eine Milliarde, wenn man ihr den noch lebenden Ill vor die Füße legt.
Friedrich Dürrenmatt hat eines der beliebtesten Bühnenstoffe des Welttheaters seit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Der Besuch der alten Dame ist eine Tragikkomödie, das heißt sie soll den Leser nicht nur unterhalten, sondern den Zuschauer auch zu einem besseren Menschen machen. Man soll das tragische Leben einer Person mitfühlen und somit über das Schicksal nachdenken. Genau dies hat Dürrenmatt mit seinem Stück erreichen können. Er gestaltet sein Werk sehr facettenreich und liefert dem Leser bzw. dem Zuschauer immer etwas zum Grübeln. Dadurch dass sehr viel analysiert werden kann und alles von Bedeutung ist, gehört das Theaterstück zur Lektüre, die etwas komplexer ist. Der Schweize Dramatiker bezieht sich meiner Meinung nach auf eine sehr interessante Überlegung und zwar, in wie fern ein Mensch bereit ist zu gehen, um sein Leben zu vereinfachen und wie schnell die Gerechtigkeit an den hintersten Platz rückt, sobald man aus einer Tat nutzen ziehen kann. Im Großen und Ganzen ist das Stück empfehlenswert, vor allem da auch die Sprache keine Probleme während der Lektüre bereiten sollte.
Was wir über Claire Zachanassian erfahren
- Richtiger Name = Kläri Wäscher
- 62 Jahre alt
- Vater = Baumeister und Alkoholiker
- Mutter hat den Vater verlassen und starb im Irrenhaus
- Claire ist in Güllen aufgewachsen
- Sie hat Prothesen (Bein durch Autounfall, Arm durch Flugzeugabsturz)
- Sie trägt sehr viel Schmuck (Perlenkette, goldene Armringe)
- Ill und sie waren vor 45 Jahren "beste Freunde" (Liebespaar)
- Laut Ill: lange rote Haare, gertenschlank, zart, "eine verteufelt shöne Hexe"
- Wird als "aufgedonnert" und "unmöglich" beschrieben, mit einer seltsamen Grazie
- Laut Lehrer: war eine sehr schlechte Schülerin, schlechtes Betragen
- Tugenden laut Ill = "Gerechtigkeitsliebe", "Sinn für Wohltätigkeit"
- Sie spottet, ihre Aussagen sind ironisch und sarkastisch
- Sie nutzt ihre überlegene Position aus
- Ihre Sprache = vulgär, ordinär und unangemessen
- Sie nimmt kein Blatt vor den Mund: entlarvt das Lob des Bürgermeisters sofort
- Die Güllener entschuldigen ihr seltsames Auftreten und ihren "Hofstaat" als "Marotten"
- Sie ist skrupellos grausam
- Sie möchte Gerechtigkeit kaufen, Selbstjustiz verüben
- "Die alte Dame" hat alle Mitschuldigen von damals gesucht oder gekauft (Butler)
- Sie hat also eine Strategie, anfangs nicht durchschaubar
- Claire = Medea und Ödipus
Die Besuchten
Der Polizist:
- Dein Freund und Helfer
- Steht für Einhaltung der Gesetze, soll die Bürger schützen
- Hier: verharmlost die Bedrohung, man soll den Vorschlag nicht ernst nehmen
- Findet eine Milliarde sogar übertrieben
- Er äußert sich auch nicht zu den Schulden
- Sagt Ill würde fabeln, möchte ihn vor einer Flucht bewahren
- Geht am Ende des Gesprächs mit Ill den schwarzen Panther jagen
Der Bürgermeister:
- Bewaffnet bei Ills Ankunft
- Raubjagd = Ausrede
- Ist sehr verschwenderisch: teure Waren, neuer Bauplan
- Streitet die Mordanschuldigung ab: möchte Ill für blöd verkaufen
- Nimmt seinen Vorschlag zum Bürgermeisterpfosten zurück
- Falsch, geldgierig, egoistisch
- Er weiß ganz genau, dass Ill fürher oder später sterben wird und sie das Geld bekommen
- Kann also seine Schulden somit begleichen
- Versucht Ill zum Selbstmord zu überreden, er würde es ihnen schuldig sein, bringt sogar geladenes Gewehr mit
- Organisiert Gemeindeversammlung
- "Stiftung gegründet": Manipulation der Presse, Drohung für Ill (S.106/107)
Der Pfarrer:
- Rolle eines Pfarrers = Sünden beichten, Vertrauen, Religion, Moral, neutrale Unterstützung
- Hier: Gegenteil vom Idealen
- Hier: besitzt Waffe, hinterhältig, falsche Unterstützung, Vertrauensbruch, ermutigt Ill sich zu opfern (Himmel-Hölle)
- Schuld und Sühne: Ill soll seine Schuld begleichen indem er sich selbst opfert, er soll den anderen keine Last mehr sein
- Pfarrer = verkommen
- "Flieh, führe uns nicht in Versichung, indem du bleibst" = erweist sich als einzig ehrliche Bestandsaufnahme der Situation
Der Lehrer:
- Tod des Panthers = Hinweis auf Ills Tod
- Laut Lehrer: Panther = kostbare, zoologische Rarität, Ill = wichtige Persönlichkeit
- Führung der Trauerode
- Beseitigung der Gefahr/Armut
- Dilemma: Geld oder Menschlichkeit?
- Spricht von "aufatmen" = Geld der Milliardärin
- Verhält sich wie ein Tier (genau wie alle Güllener): Geldhunger stillen
Verwandlung von Ill
- Damals: hat sich für das Geld (Krämerladen) entschieden, nicht für die Liebe
- Hat gehofft fliehen zu können, ins Freie zu gelangen
- Gegenteil = Fall: "Ich lebe in einer Hölle seitdem du von mir (!) gegangen bist, ein verkrachter Krämer in einem verkrachten Städtchen" (Rede von Ill)
- Claire: "Du hast dein Leben gewählt und mich in das meine gezwungen"
- Ill hat der Liebe keine Chance gegeben
- Hölle seines Alltags = Familie: Frau entzieht sich ihm, Kinder sind ohne Sinn für Ideale, geben ihm die Schuld an der Armut, kümmern sich nicht um sein Schicksal, demonstrieren nach außen harmonische Geschlossenheit wo es längst ums Leben geht
- Besuch der alten Dame = Zufall, befreit Ill aus Monotonie und Familienhölle
- Einsicht von Ill: "Ich weiß nur, dass ich ein sinnloses Leben beende"
- Ill = stehen geblieben, hat sich nicht entwickelt
- Hat seine Jugendtat verdrängt, kein Problem gehabt mit der Schuld zu leben
- Anfangs: gibt er sich als Schwerenöter und Verführer aus = seine kaltblütige Taktik, in Gedanken schon zukünftiger Bürgermeister
- Stellt sich als Opfer dar, gibt vor für ihr Glück auf die schwangere Geliebte verzichtet zu haben
- Zunächst läuft Ill davon
- Doch es erfolgt eine innere Verwandlung: Schuldbekenntnis (S.102-103)
- "Seine Entscheidung nicht mehr zu kämpfen, ist zwar ein Erfolg seiner Einsicht, jedoch kein Akt der Freiheit, sondern der Verzweiflung" ("Ich kann mir nicht mehr helfen")
- Dürrenmatt klassifiziert Ill trotzdem als Helden: nimmt sein Schicksal auf sich und sühnt somit die Schuld aller (analog zum Tod Christi)
Sein Tod sühnt und erlöst die Güllener nicht vom Bösen, sondern allenfalls von materiellen Übeln. Führt letztendlich jedoch zu noch mehr materiellen Übeln denn er ermöglicht die Universalisierung der Korruption.
Die Güllener im Laufe der Handlung
- Distanzieren sich gegenüber Ill: suchen Abstand für späteren Mord
- Versuchen reines Gewissen zu haben
- Scheinheilig und heuchlerisch: seit 45 Jahren Mitwissende, tun jedoch so, als seien sie noch immer entsetzt darüber gewesen
- Rede des Bürgermeisters: "Sie haben bis jetzt geschwiegen, doch werden sie weiterhin schweigen"
- Abklärung der Gemeinderversammlung mit Ill = abgekarteter Prozess
- Gemeindegericht = kein Gericht: Urteil steht schon vor der Verhandlung fest
- Verhandlung = Selbstjustiz
- Ill unterwirft sich dem Urteil, möchte nicht mehr fliehen: Güllener haben nachher Blut an den Fingern, Ill fordert sie auf ihn umzubringen, sie müssen sich selber schuldig machen (S.109)
Der Gerechtigkeitsbegriff im Stück
- Claire Zachanassian liebte die Gerechtigkeit
- Gerechtigkeit und Recht unterscheiden: Güllener bedienen sich dieser Unterscheidung
- Laut Claire: Gerechtigkeit = subjektivistisch und materialistisch, Gerechtigkeit kann man sich kaufen (Butler)
- Korrumpierbarkeit der sittlichen Rechtsordnung
- Racheprinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn (alttestamentarisch)
- 1.Akt = Letzte: Katastrophe einer 45-jährigen Leidengeschichte wird in der Exposition schon eingeholt
- Claire hat es nie vergessen, Ill schon
- Ills Freiheit wurde zur Claires Gefängnis
- Freiheit = eigentliche Problem: Freiheit = besonderer Begriff der Gerechtigkeit, existenzielle Idee der Gerechtigkeit
- Claire Zachanassian handelt also in "Freiheit"
- Welt in der wir leben ist unmoralisch: menschliche Problematik
- Claires Gerechtigkeit = Vergeltung und Rache als persönliche Gerechtigkeit
- Ills Gerechtigkeit = Gerechtigkeit als Sühne für frühere Schuld
- Gerechtigkeit der Güllener = Heuchelei, Ideologisierung, Herstellen von Gerechtigkeit durch Aussage, bezahlter Mord (Verhalten)
Vergleich: Sophokles VS Dürrenmatt
Sophokles:
Vieles ist ungeheuer, doch der Mensch ist am Ungeheuersten
Darstellung des Menschen:
- Hat sich selbst gefunden, ist mit sich selbst im Reinen
- Durch die Selbstentfaltung: Aneignung der Sprache und selbstständiges Denken
- Positive Lebenseinstellung
- Sehr mächtig, kann nahezu alles außer den Tod bezwingen
- Mensch = derjenige, der andere unterjocht
- Mensch besitzt Größe, Stärke und Zielstrebigkeit
Dürrenmatt:
Neben diverser Naturkatastrophen bzw. Atomunglücken ist die Armut das Ungeheuerste
Darstellung des Menschen:
- Abhängigkeit der sozialen Situation verwehrt die Selbstfindung
- Die Armutsabhängigkeit entsteht durch Hilflosigkeit, Überforderung und Hass
- Negative Lebenseinstellung
- Ist der veräußerlichten Lage unterworfen
- Mensch = der Unterjochte
- Mensch ist unterdrückt, einsam und von Traurigkeit geprägt
Mit dem Chor möchte Dürrenmatt auf das Moralische hinweisen, auf die materielle Begirde die zum Sittenverfall führt.